Zeitungsandachten
Anders sehen
Verwunschen könnte man das Haus nennen. Der Zaun hängt schon etwas schief, Unkraut und Mohnblumen sprießen aus den Ritzen, der Baum hinter der Einfahrt wuchert. Man sieht dem Garten an, dass schon lange kein Rasenmäher mehr vorbeigetuckert ist. Die Nachbarhäuser sehen anders aus: akkurat geschnittene Büsche, frisch verputzte Fassade, mehrere Autos auf dem Hof. Ich kann mir vorstellen, dass ihnen das sprießende Grün nebenan ein Dorn im Auge ist. Vermutlich empfinden sie das alte Haus nicht als verwunschen, sondern als verwahrlost.
Ja, aber: Bei genauerem Hinhören gibt es hier noch mehr zu entdecken. Aus diesem Garten heraus zwitschert es extrem laut, Unmengen von Vögel im wuchernden Baum. Im Unkraut zirpt es laut – Grillen! Und ist das womöglich ein Froschkonzert aus einem Teich weiter hinten auf dem großzügigen Terrain? Das ist schon etwas anderes als bei den versiegelten Flächen ein paar Meter weiter.
Als ich weitergehe, an den chicen Nachbarhäusern entlang, merke ich, wie warm es vor ihnen auf dem Bürgersteig ist. Überrascht gehe ich zurück zu dem verwunschenen Haus. Tatsächlich: Angenehm kühl ist es dort. Und noch einmal staune ich über das Gezirpe, Gezwitscher und Gequake. Ein kleines Stück Natur.
Beim schnellen Vorbeifahren hätte ich das alte Haus lediglich als ungepflegt, heruntergekommen bezeichnet und den Kopf geschüttelt. Wie kann man nur?!
Bei meinem Spaziergang hat sich mir noch etwas anderes erschlossen: der Wert des Ungeordneten für die Natur. Wie viel mehr Lebewesen können sich hier auf diesem struppigen Gartenstück tummeln als auf der versiegelten Nachbars-Fläche!
Gegen Insektensterben etwas zu unternehmen, ist offenbar gar nicht so schwierig: einfach wachsen lassen. Das Gartenchaos – bei näherem Betrachten ein Paradies für Tiere.
Und ist das nicht auch ein guter Tipp für unsere zwischenmenschlichen Begegnungen? Schaue nicht nur einmal hin. Urteile nicht vorschnell. Wage einen zweiten Blick. Nimm die anderen Sinne zu Hilfe, um etwas wahrzunehmen.
Ich erinnere mich an Jesus, der seine Mitmenschen so anschauen konnte.
Ich denke an den Vers aus dem Alten Testament: „Der Mensch sieht nur auf das Äußere, der Herr aber sieht auf das Herz.“ (1. Samuel 16, 7c)
Auf dass es uns immer wieder gelingen möge, auf das hinter dem Äußeren zu schauen!
Maren Zerbe
Pastorin in der Kirchengemeinde Neuenkirchen und
in der Region Schneverdingen-Neuenkirchen-Heber
Erschienen am 22. Juni 2024 in der Böhme-Zeitung